Einmal im Jahr wird im Netzwerk Texttreff gewichtelt – und zwar mit Blogbeiträgen. Mir wurde meine liebe Kollegin Henrike Doerr vom Blog www.text-welten.com zugelost. Henrike ist wie ich Lektorin und gibt Schreibseminare. Ihr Wichtelgeschenk für mich: ein toller Text über das Adjektiv.
Aufsätze schreiben in der Grundschule – erinnern Sie sich noch? Meine Lehrerin hat uns damals eingeschärft, unbedingt Adjektive zu benutzen. Diese Wie-Wörter wären so schön beschreibend. Also habe ich wild drauflos fabuliert. In der Grundschule habe ich für meine fantasievollen Texte dann immer Sternchen eingesammelt. In der Mittelstufe auf dem Gymnasium hieß es plötzlich: „zu ausschweifend!“, „treffender formulieren!“ Hatte mir meine Grundschullehrerin etwa alles falsch beigebracht?
Entschiedenes Jein fürs Adjektiv
Heute gebe ich selbst Schreibworkshops und kann entschieden antworten: Jein, hat sie (nicht). Aber ich bemerke, dass sich viele meiner Kunden mit dem Gebrauch der Adjektive schwertun. Wie geht es denn? Wann sind Adjektive gut? Und wann nicht? Wie verwendet man sie sinnvoll?
Faulheit ist der Tod des Adjektivs
Zunächst einmal: Es stimmt, dass Adjektive beschreiben und Sätze interessanter gestalten können. Insofern hatte meine Grundschullehrerin recht. Das Problem ist allerdings Faulheit, und zwar die der Autoren. Statt vorher zu grübeln, welches Wort es genau trifft, schreibt der Verfasser nach dem Gießkannenprinzip drei Adjektive hin, die in der Schnittmenge ungefähr das ergeben, was er sagen wollte. So muss der Leser überlegen, wie der Texte zu verstehen ist. Das ist ermüdend und führt im Extremfall dazu, dass der Text ungelesen beiseitegelegt wird. Das muss nicht sein!
Schreiben ohne Adjektive
Oft werden Texte besser, wenn sie knapp formuliert sind, wenn jedes Wort eine Funktion hat. Dafür kommen wir häufig ganz ohne Adjektive aus, weil schon die Verben oder Substantive so aussagekräftig sind, so viele Bilder im Kopf erzeugen, dass jedes weitere Wort überflüssig ist. Hier ein Beispiel aus der Arbeitswelt:
Da lautes, durchdringendes Kindergebrüll auf Dauer anstrengend ist, sollten Erzieherinnen in den Pausen einen stillen Ruheraum aufsuchen.
Hier haben wir gleich zwei Dopplungen, die die Adjektive überflüssig machen:
- Gebrüll ist immer laut und meistens durchdringend. Die Adjektive sind überflüssig.
- Im Ruheraum sollte es immer still sein, denn sonst ist er kein Ruheraum. Auch dieses Adjektiv können wir streichen.
Es bleibt:
Da Kindergebrüll auf Dauer anstrengend ist, sollten Erzieherinnen in den Pausen einen Ruheraum aufsuchen.
Die „guten“ Adjektive
Bei allem Geschimpfe dürfen wir nicht vergessen, dass Adjektive auch eine nützliche Funktion haben. Sogar mindestens vier:
- Sie können unterscheiden. (Der Täter floh in einem grünen Lieferwagen.)
- Sie können bewerten. (Der lesenswerte Roman von xy …)
- Sie können veranschaulichen. (das verkrampfte Lächeln, der schleppende Gang)
- Sie können überraschen. (die lärmende Stille, das eisige Lächeln)
Bei Punkt 1 ist das Farbadjektiv zur Unterscheidung wichtig und darf nicht fehlen. Ebenso unverzichtbar sind wertende Adjektive wie in Punkt 2. Lesen Sie zum Beispiel eine Rezension, erwarten Sie eine Bewertung des Buchs. Ohne diese wäre die Rezension unvollständig. Bei Punkt 3 denken Sie vielleicht wieder an Ihre Grundschullehrerin: Ja, Adjektive können Texte anschaulicher gestalten, wenn sie mit bedacht gewählt werden und eine Zusatzinformation zum Substantiv enthalten. Schließlich können Adjektive auch überraschen wie in den Beispielen unter Punkt 4. Dann nämlich, wenn sie Aussagen zusammenbringen, die wir so nicht verbinden würden, und die trotzdem sinnvoll und aussagekräftig sind.
Adjektive – aber richtig!
Zusammenfassend gilt also: Versuchen Sie, in Ihren Texten ohne Adjektive auszukommen, und wählen Sie lieber treffende Substantive. Möchten Sie jedoch unterscheiden, bewerten, veranschaulichen oder überraschen, dann wählen Sie sorgfältig ein genau passendes Adjektiv, das diese Funktion erfüllt. Viel Spaß beim Schreiben!
Gastautorin Henrike Doerr ist freiberufliche Lektorin, Texterin und Seminarleiterin. Sie bringt besonders viel Erfahrung in den Bereichen Autorenbetreuung, Marketingkommunikation, Werbelektorat, Buch- und Zeitschriftenlektorat sowie Übersetzungslektorat mit. www.text-welten.com
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